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Wie resilient ist unser Rechtsstaat?

Schwerpunktthema: Interview

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann spricht im Interview mit dem Göttinger Tageblatt u.a. über die Resilienz der Justiz und das Quick-Freeze-Verfahren.

Interviews und Gastbeiträge
Göttinger Tageblatt

zu sehen ist Bundesminister Marco Buschmann im Gespräch
Quelle: BMJ/Dominik Butzmann

Göttinger Tageblatt: Herr Buschmann, Sie sprechen in Göttingen an der Uni über 75 Jahre Grundgesetz. Wie steht es um unsere Demokratie?

Dr. Marco Buschmann: 75 Jahre Grundgesetz ist ein wunderbares Jubiläum. Unser Staat ist die freiheitlichste und auch wohlhabendste Demokratie, die es je auf deutschem Boden gab. Darauf ausruhen können wir uns aber nicht: Autoritäre Kräfte auf der ganzen Welt bedrohen die Prinzipien der Demokratie, des Völkerrechts, des Rechtsstaats und die Geltung der universellen Menschenrechte. Es gibt auch in Deutschland Netzwerke, teilweise islamistisch, teilweise rechts- oder linksextremistisch oder sonstwie ideologisch motiviert, die unserer Demokratie schaden wollen. Teilweise wird das sogar aus dem Ausland finanziert. Man sollte sich immer neu vor Augen führen: Demokratie ist kein Geschenk, das man bekommt und einfach behalten kann, sondern ein Auftrag, an dem wir ständig alle mitwirken müssen.

Sie sprechen zum Thema „Mehr Verfassung wagen“. Trauen wir der Verfassung zu wenig zu?

Nein, ich habe großes Vertrauen in unsere Verfassung. Mehr Verfassung wagen heißt auch, mehr Vertrauen in den Geist der Verfassung zu haben. Das Grundgesetz sagt zum Beispiel, dass die Debatte der beste Weg ist, um Fortschritt und Innovation zu ermöglichen. Jeder kann grundsätzlich erst einmal alles sagen, jeder soll seine Argumente vortragen, wir sollen uns auch streiten können. Und trotzdem stellen wir fest, dass wir in einem Land leben, in dem sich mittlerweile an Universitäten Hochschullehrer die Frage stellen, was man eigentlich noch sagen kann. In dem sich Universitäten die Frage stellen, zu welchen Themen man eigentlich noch Veranstaltungen durchführen kann, ohne befürchten zu müssen, dass diese plötzlich gestört und Teilnehmer niedergebrüllt werden. Immer mehr Menschen machen sich Sorgen, was man eigentlich alles noch sagen kann. Das Grundgesetz sagt: Jeder muss jedes Argument vortragen können. Was nicht geht, ist, dass Menschen verächtlich gemacht oder Verbrechen gebilligt werden. Wir müssen eine Gesellschaft bleiben, die sich dem Grundgesetz verpflichtet fühlt – mit Freude an der Debatte und Neugier auf neue Argumente und Meinungen.

Göttingens Unipräsident Metin Tolan hat zuletzt davor gewarnt, dass ein Erstarken rechtsextremer Parteien wie der AfD für den Wissenschaftsstandort Deutschland gefährlich werden könnte. Teilen Sie diese Sorgen?

Ja, die teile ich. Denn Wissenschaft braucht internationalen Austausch. Der ist durch völkisches Denken und Abschottung bedroht. Es ist aber auch eine Frage der Wirtschaft. Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft haben sich genauso besorgt mit dem gleichen Argument geäußert. Wir brauchen als Land ausländische Spezialisten, aber als Exportnation auch Ansehen in der Welt – und dafür ist es wichtig, dass ein Land attraktiv ist und man nicht in den Nachrichten liest, dass es dort ein rechtspopulistisches Problem gibt. Das wäre eine Belastung für Wissenschaft, Wirtschaft und das Land als Ganzes. Weltoffenheit und Liberalität sind ethische Prinzipien, aber auch Standortfaktoren.

Wird es in dieser Legislaturperiode noch mit der Absicherung des Bundesverfassungsgerichts klappen?

Wir stehen dazu im Austausch mit der Union – und ich bin sehr hoffnungsfroh, dass die Umsetzung in dieser Legislaturperiode gelingen kann. Denn die Gespräche verlaufen außerordentlich sachkundig und konstruktiv. Am Ende muss sich eine breite Mehrheit der seriösen Demokraten im Bundestag zusammenfinden. Von den Grundvoraussetzungen her sollte uns das gelingen.

Mit Blick auf mögliche Wahlerfolge der Rechtsextremen: Wie resilient ist die Justiz gegenüber dem möglichen Einfluss von Demokratiefeinden?

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Deutschland eine unabhängige Justiz haben, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung steht. Nach dem Deutschen Richtergesetz muss jede Person, die ein Richteramt bekleidet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten. Jemand, der eine Geisteshaltung vertritt, die wesentliche Elemente dieser Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland in Frage stellt, ist von Rechts wegen nicht geeignet für eine Richterposition. Die andere Frage, die Sie stellen, ist natürlich viel schwieriger: Was passierte, wenn wir in Deutschland über längere Zeit autoritär orientierte Mehrheiten hätten? Da kann das Recht dämpfen, Effekte reduzieren, aber natürlich nicht alle Probleme lösen, die aus autoritär gesinnten Mehrheiten folgen.

Was muss stattdessen unternommen werden?

Rechtliche Instrumente sind wichtig. Aber jeder seriöse Demokrat muss sich doch vor allem die Frage stellen, warum sich ein viel zu hoher Anteil von Menschen mobilisieren lässt, Parteien zu wählen, die in Wahrheit nichts im Angebot haben außer Ressentiments und schlechter Laune. Es bleibt ein Auftrag, möglichst viele Menschen für seriöse Politikangebote zurückzugewinnen.

Muss sich die Ampelkoalition das nicht noch mehr zur Aufgabe machen, jetzt seriöse Angebote zu schaffen – und nicht nur als zerstrittenen Koalition aufzutreten?

Also erstmal finde ich, streitbar und seriös sein sind kein Widerspruch. Demokratie ist ja die Form politischer Verfasstheit, die gerade darauf aus ist, dass öffentlich Argumente vorgetragen werden, dass Debatten stattfinden, dass es verschiedene Parteien mit unterschiedlichen Ansichten gibt. Es wäre geradezu demokratisch verwerflich, wenn man auf die Idee käme, dass jetzt alle das Gleiche sagen müssten.

Niedersachsens Justizministerin Wahlmann hat härtere Strafen für Vergewaltiger gefordert. Wie stehen Sie dazu?

Es ist immer populär, höhere Strafen zu fordern. Dabei wird aber häufig vergessen, dass die abschreckende Wirkung von immer höheren Strafrahmen begrenzt ist. Wichtiger ist die Aufklärungsquote. Denn nur wer damit rechnen muss, gefasst zu werden, zieht den Strafrahmen für sein Verhalten überhaupt in Betracht. Ansonsten ist er den potenziellen Tätern ziemlich egal. Für Vergewaltigung sieht unser geltendes Recht grundsätzlich einen Strafrahmen von bis zu 15 Jahre Freiheitsstrafe vor. Alarmierend erscheint mir, dass das Dunkelfeld bei Sexualstraftaten immer noch erdrückend hoch ist: Nach einer Studie des BKA werden nur ein Prozent aller Sexualdelikte angezeigt, bei Missbrauch oder Vergewaltigung sind es knapp 10 Prozent. Hier anzusetzen und uns zu fragen, was wir tun können, um den Opfern den Gang zur Polizei und zu den Gerichten zu erleichtern, halte ich für weitaus zielführender. Denn das ist die Voraussetzung dafür, dass Täter häufiger als jetzt mit Aufdeckung und Verurteilung ihrer Tat rechnen müssen.

Wird der Strafrahmen bei Sexualdelikten denn umfassend genug ausgenutzt?

Der Bundesjustizminister wird den Gerichten keine Kopfnoten erteilen. Aus guten Gründen haben wir in Deutschland Gewaltenteilung. Wir wissen allerdings aus der empirischen Forschung, dass die Menschen sich natürlich immer möglichst harte Strafen wünschen. Das ist menschlich auch nachvollziehbar. Ich will das gar nicht kritisieren. Neben der gesellschaftlichen Genugtuungsfunktion gibt es aber auch andere Aspekte, die bei der Strafzumessung zu beachten sind. Wenn es um die Frage geht, wie Menschen nach der Verbüßung ihrer Strafe möglichst keine Gefahr mehr für die Gesellschaft darstellen, ist eine möglichst lange Strafe nicht immer der beste Weg. Hier müssen die Gerichte jeden Einzelfall genau prüfen.

Der Weiße Ring fordert unter anderem die Einführung von elektronischen Fußfesseln für Stalker. Was sagen Sie dazu?

Diese Diskussion muss in erster Linie in den Ländern geführt werden. Denn dort liegt die Zuständigkeit für die Polizei und ihre Befugnisse. Bei der Polizei wäre die Entscheidung über den Einsatz von elektronischen Fußfesseln am besten aufgehoben. Es geht schließlich um klassische Gefahrenabwehr.

Winfried Kretschmann fordert eine Debatte über die Herabsetzung der Strafmündigkeit. Ist die Altersgrenze von 14 Jahren noch die richtige?

Wenn junge Menschen unter 14 Jahren Straftaten begehen, werden sie zwar nicht nach dem Strafrecht verfolgt, aber das heißt nicht, dass nichts passiert. Es gibt einen Instrumentenkasten erzieherischer Maßnahmen, die bis zu einer geschlossenen Unterbringung reichen. Es gibt also Instrumente, mit denen die Rechtsgemeinschaft reagieren kann. Was die Frage der Strafmündigkeitsgrenze angeht: Es gibt keine naturwissenschaftliche Formel, die lautet: 14 Jahre ist absolut richtig, 16 oder 13 dagegen absolut falsch. Es ist eine Abwägungsfrage, die im deutschen Recht vor sehr langer Zeit so getroffen worden ist. Man könnte das ändern, wenn man zu dem Schluss gelangt, dass sich die Lebenswirklichkeiten der jungen Menschen so sehr verändert hat, dass wir ihnen diese höhere strafrechtliche Verantwortung schon früher zuweisen können. Es gibt hierzu aber gängige Studien, nach denen in der Wissenschaft eher ein gegenteiliger Eindruck vorherrscht. Insbesondere durch die Corona-Maßnahmen ist die Sozialkompetenz und auch die Selbststeuerungskompetenz der jungen Leute jedenfalls nicht verbessert worden.

Mit Blick auf die EM fordern Sie für Hooligans „Strafen auf dem Fuße“. Klingt wie eine Forderung nach Schnellgerichten.

Die Justiz wird gute Wege finden, um mit Herausforderungen, die aus Großereignissen folgen, umzugehen. Mir ist wichtig, dass man sich bereits bei der gesamten Organisation darauf einstellt, dass zu einem solchen Großereignis nicht nur Fußball-Fans anreisen, sondern auch Personen, die Krawall suchen. Dazu gehört nicht nur, den Schaden abzuwehren, den solchen Personen anrichten, sondern bei strafbarem Verhalten auch konsequent mit hoher Priorität die Identitäten festzustellen und Beweise zu sichern. Denn ohne Namen und Beweise kann die Justiz ihre Arbeit nicht machen.

Stichwort Gefahrenabwehr: Innenministerin Nancy Faeser hat erneut gefordert, noch einmal über die Speicherung von IP-Adressen zu sprechen. Wird das jetzt doch wieder Thema in der Koalition?

Nein. Wir haben vereinbart, dass wir Quick Freeze umsetzen, weil in Wahrheit alle einig sind, dass das gegenüber der derzeit geltenden Rechtslage ein Fortschritt ist. Dass die Sozialdemokratie und auch andere die Debatte weiterführen, ob es nicht noch andere Instrumente gäbe, ist deren gutes Recht. Das steht aber nicht im Widerspruch dazu, dass jetzt Quick Freeze kommt. Mir sind zwei Dinge wichtig: Die Grundrechte und die Rechtssicherheit. Beim Thema Vorratsdatenspeicherung führen wir seit circa 20 Jahren eine intensive Debatte. Alle Varianten dieses Instrumentes sind bislang vor den Gerichten gescheitert. Meiner Lösung billigen alle Teilnehmer der Debatte zu, dass sie rechtssicher ist. Da wird man einem Justizminister sicher nicht verübeln können, wenn er sagt: Lasst uns nach zwei Jahrzehnte doch einfach mal ein Gesetz machen, von dem wir alle sicher wissen, dass es den rechtlichen und europarechtlichen Test besteht und die Lage der Sicherheitsbehörden verbessert.

Sie haben jüngst die Erfolge beim Bürokratieabbau gefeiert. Wie groß ist der Erfolg wirklich?

Weite Teile Deutschlands leiden an einem regelrechten Bürokratie-Burn-out. Egal mit wem Sie sprechen: alle sind erschöpft – Bürger, Betriebe und Behörden. Alle sagen: Es ist einfach zu viel. Wir bewältigen das nicht mehr. Selbständige, Unternehmer, Bürgermeister und Landräte erzählen mir, dass sie massiv Personal aufbauen mussten, nur um bürokratische Vorgabe umzusetzen – und das in Zeiten des Fachkräftemangels. Das ist absurd und zeigt einmal mehr: Unnötige Bürokratie ist nichts anderes als ein Zeit- und Ressourcenfresser. Deshalb entlasten wir jetzt mit dem Entbürokratisierungspaket Unternehmen um mehr als drei Milliarden Euro pro Jahr.

Aber ohne Europa werden Sie das allein nicht schaffen.

Das stimmt. Leider ist es im Moment so, dass wir in Deutschland die Bürokratie nicht so schnell abbauen können, wie Frau von der Leyen sie in Brüssel neu produziert. Das ist ein echtes Problem. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Vor kurzem hat das Kabinett das Bürokratieabbaugesetz IV verabschiedet. Damit sparen wir ca. eine Milliarde Erfüllungsaufwand für Unternehmen jährlich ein. Fast zeitgleich müssen wir aber die Europäische Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung umsetzen. Das sorgt in unserer Wirtschaft für Belastungen von 1,4 Milliarden Euro pro Jahr. Der Effekt unserer Arbeit ist dadurch mehr als aufgefressen. Daher brauchen wir eine europäische Trendwende. Europa muss wieder Wachstums- und Freiheitsprojekt sein, nicht Bürokratiequelle Nummer eins.

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